Braucht das Ich Beziehungen?

Vor einiger Zeit beschrieb ich meine Niedergeschlagenheit zwei bis drei Monate nach der Diagnose. Ich war niedergeschlagen, weil ich mich auf die Art, wie ich mich vor der Krebserkrankung definiert hatte, verloren fühlte. Tenor: Wenn ich von allen nur noch als bemitleidenswerter Patient wahrgenommen und behandelt werde, leide ich unter Identitätsverlust. Hier der Beitrag.

Doch mit ein wenig Abstand kommen mir weitere und andere Gedanken zu dem Thema:

Nicht die Aufklärung mit offener Ansprache der vermeintlich Betroffenen hat mir auf Dauer in diesem Komplex geholfen, sondern ein anderer Umgang mit Identität. Ich will nicht behaupte, dass eine offene Ansprache hier nicht enorm wichtig, verbindend und hilfreich ist. Das ist definitiv so.

Aber was wohl noch wichtiger ist: Ich löse mich ja auch von den bisherigen Vorstellungen von Identität. War es bisher richtig, die eigene Identität – auch geschaffen durch das Netz an Verbindungen und Beziehungen – immer auch im Lichte der äußerlichen Welt zu begreifen, so ahne ich mittlerweile, dass es eine ewige Konstante geben könnte. Mein Ich ist vorhanden als Teil des Ganzen. Das Ganze aber ist ewig und unveränderlich.

Nun kommt es „nur“ noch darauf an, sich selbst zu erkennen, ob als Lebemann in Paris oder als Mönch auf dem Berg Athos (nach Herrmann Hesse, Klingsors letzter Sommer). Aber ganz ehrlich: Diese Lebensfrage lässt sich nicht nach wenigen Wochen oder Monaten beantworten. Das ist eine sehr lange Reise, aber dazu später mal mehr.

Dieses Sich-selbst-Erkennen speist sich aus ganz vielen Quellen, die wir das Erleben nennen können. Dazu gehören auch Beziehungen mit anderen Menschen und damit anderen Identitäten. Aber der Erkenntnisgewinn ist nicht dort am größten, wo möglichst viele andere Menschen beteiligt sind. Eher dort, wo die Tiefe am spürbarsten ist. Wo ich mein Erleben tief aufnehmen kann. Das sind dann in der Regel eben nicht die äußerlichen Umstände wie die Beziehungen.



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Dankbar für dieses Glück